
25.07.2023 || Freiheit, Gleichheit, Demokratie – oder doch nur ein „weißes Amerika“, möglichst ohne Migration? Diese Fragen werden die Präsidentschaftswahl der Vereinigten Staaten 2024 bestimmen. Pünktlich zum Vorwahlkampf in den USA liefert der deutsche Journalist und Historiker Johannes Ehrmann eine neue Sicht auf den Gründungsmythos dieser gespaltenen Nation. Sein historisches Sachbuch Söhne der Freiheit. Eine deutsche Einwandererfamilie und die Gründung der Vereinigten Staaten schildert die US-amerikanische Geschichte in Form eines Familienepos vor dem Hintergrund historischer Ereignisse – spannend und mit einer großartigen Erzählkunst. Das Buch zeigt, wie sehr die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien und ihre nationale Identität von ursprünglich deutschen Gründervätern geprägt wurden – den Mühlenbergs.
„Meet the Muhlenbergs“: Der Gründungsmythos der USA neu erzählt
Am Anfang des Familienepos steht Heinrich Mühlenberg, Pastor aus Leipzig. Im Jahr 1742 wird er – zunächst auf Zeit – in die britische Kolonie Pennsylvania abgeordnet. Dort soll er Einheit in die behelfsmäßig aufgebauten evangelischen Gemeinden bringen, die im Chaos versinken. Das Projekt gelingt – Heinrich Melchior Mühlenberg gilt bis heute als Gründer der lutherischen Kirche in den USA. Er ändert seinen Namen in Henry Muhlenberg und wird zum Stammesvater einer ganzen Dynastie – wenn auch nicht so, wie er selbst wollte. Geplant ist nämlich, dass sein Sohn Frederick Muhlenberg in seine Fußstapfen folgen soll: Wie der Vater studiert Frederick in Halle Theologie und wird auch Pastor in seiner Heimat Pennsylvania. Dann aber zieht es ihn in die US-amerikanische Politik. In den Jahren 1789 bis 1791 tagt der erste Kongress der Vereinigten Staaten – ein erster Versuch, den losen Staatenbund in den ehemaligen Kolonien zu einem Ganzen zu vereinen. Frederick schlägt sich auf die Seite der Pro-Administration um George Washington. Er selbst wird 1789 zum ersten Sprecher des Repräsentantenhauses und unterzeichnet die Bill of Rights, die zehn Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten liefert. Damit ist der Grundstein für eine freiheitlich demokratische Gesellschaft gelegt – eine damals revolutionäre Geschichte.
Im Laufe der Zeit wird sich Frederick Muhlenberg von der eher konservativen Politik seiner Regierung abwenden und der Demokratisch-Republikanischen Partei beitreten. So viel ist historisch belegt. Nicht nachgewiesen hingegen ist die weit verbreitete Mühlenberg-Legende, nach der er durch seine Stimme ein Gesetz verhindert haben soll, das Deutsch zu einer Amtssprache in Pennsylvania machen sollte. Seine Ablehnung soll er mit den Worten begründet haben: „Je schneller die Deutschen Amerikaner werden, desto besser.“
Johannes Ehrmann versteht es, geschichtliche Ereignisse mit erzähltechnischer Raffinesse zu würzen. Gekonnt verknüpft er die Familiengeschichte und Einzelschicksale der Mühlenbergs mit der US-amerikanischen Historie – der erste Kongress der Vereinigten Staaten, der Unabhängigkeitskrieg, die amerikanische Revolution und die Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1776, die die Gründung der USA einleitet. Nicht weniger als 45 Jahre umspannt die Familiensaga der Mühlenberg-Dynastie – stets vor dem Hintergrund einer langwierigen Nationenbildung. Die Mühlenbergs (später die Muhlenbergs) führen die neu gegründete Nation vom achtzehnten ins neunzehnte Jahrhundert. Es ist ein stetes Ringen um den richtigen Weg in die Moderne – und in die Demokratie.
Einwanderung und Rassismus: Historische Fakten und Aussichten auf die Zukunft
Johannes Ehrmanns Buch erscheint zu einem bedeutsamen Zeitpunkt: In diesem September beginnt in den USA auch der Vorwahlkampf für die Präsidentschaftswahl 2024. Der Wahlkampf wird maßgeblich durch Themen wie Einwanderung und Rassismus bestimmt werden. Ehrmanns Buch bietet einen Beitrag zu diesen Themen aus einer weit umfassenden, historischen Perspektive. Zum einen beschäftigt Ehrmann sich mit dem sozialen Konstrukt von weißer Identität. Das zeigt sich am Stellenwert ethnisch Deutscher in der US-amerikanischen Mehrheitsgesellschaft, der seit dem 18. Jahrhundert tatsächlich durch rassistische Vorurteile beeinflusst war. Deutsche, deutschsprachige Schweizer und auch Niederländer wurden von Angloamerikanern oft abwertend als „Black Dutch“ oder „swarthy Germans“ bezeichnet. Mit dem englischen Wort „swarthy“ ist zunächst ein typisch südeuropäisches Aussehen gemeint – Olivenhaut und dunkles Haar. Angeblich traf das auf viele Deutsche zu. Bald galt dieses „deutsche Aussehen“ aber auch als Erkennungsmerkmal für Weiße, die unter ihren Vorfahren einige amerikanische Ureinwohner oder Afrikaner hatten und diese Abstammung zu verstecken versuchten. Somit wurde „German“ oder „Dutch“ zu einem Begriff, der alles beschreiben konnte, was eine angloamerikanische Oberschicht nicht haben wollte – bis hin zu Arbeitern und politischen Gegnern.
Andererseits sind die Muhlenbergs zweifellos weiß – und zweifellos privilegiert. Ehrmanns Buch beschreibt eine Familie, die über Generationen hinweg in Führungspositionen arbeitet – in religiösen Ämtern, in der Politik und im Militär. Ihre frommen Anfänge an der Spitze der deutschen lutherischen Kirche prädestinieren sie für eine steile Karriere in den Vereinigten Staaten, die vom strengen Protestantismus geprägt sind. Außerdem handelt es sich um eine Familie mit strikt patriarchaler Tradition, wie bereits der Buchtitel suggeriert.
Zum anderen beschreibt Ehrmann eine deutsche Einwanderungsgeschichte in den USA. Die Muhlenbergs sind deutsche Migranten, die zu Gründervätern der amerikanischen Nation werden. Wie alle weißen „Founding Fathers“ haben sie eine ethnische Herkunft jenseits ihrer neuen Heimat. Was sie eint, ist nicht Genetik, sondern die Idee einer amerikanischen Nation – einer neuen Einwanderungsnation. Allerdings wollten die weißen Gründerväter der USA – einschließlich George Washington – nie eine freiheitliche Grundordnung für Frauen, für amerikanische Ureinwohner und in die USA verschleppte schwarze Sklaven. Migration aus nicht-europäischen Ländern war kein bestimmendes Thema zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung von Europa – das europäische Erbe galt aber immer fraglos als identitätsstiftend. Die Frage ist, ob nicht ein radikal anderer Blick auf die US-amerikanische Geschichte hermuss, damit sich diese besondere und schon immer diverse Bevölkerung vereinen kann.
Über den Autor:
Johannes Ehrmann (geb. 1983 in Saarbrücken) ist freier Journalist, Publizist, Schriftsteller und Redakteur für die ZEIT. Für seine journalistischen Texte erhielt er mehrfach Auszeichnungen, u. a. den Theodor-Wolff-Preis der deutschen Zeitungen (2014). Ehrmann absolvierte sein Studium in den Fächern Amerikanistik und Geschichte, sowohl in Berlin als auch an der University of Pennsylvania, wo er seinen Masterabschluss erhielt. Sein neues Sachbuch Söhne der Freiheit. Eine deutsche Einwandererfamilie und die Gründung der Vereinigten Staaten lehnt sich an sein Masterstudium an. Ehrmann lebt in Berlin.
Söhne der Freiheit erscheint am 16. September 2023 bei Klett-Cotta und ist dann überall dort erhältlich, wo es Bücher gibt.
Text: PB
Verlag: klett-cotta