
10.10.2023 || Das Metropolitan Museum of Art in New York (auch als „The Met“ bekannt) ist das größte Museum für Kunst in den Vereinigten Staaten. Der Journalist Patrick Bringley hat dort zehn Jahre als Museumswächter gearbeitet. Nun widmet er diesem Kunstmuseum ein sehr persönliches Buch: Seine Erinnerungen All die Schönheit dieser Welt. Wie mir die Kunst dabei half, meine Trauer zu überwinden erscheinen am 26.10. bei Allegria. In leiser, poetischer Sprache schildert er, wie der plötzliche Tod seines Bruders sein Leben verändert. Allein die Kunstwerke geben ihm Trost und Halt. Die überwältigende Schönheit der New Yorker Kunstsammlung lindern seine innere Leere und helfen ihm, zurück ins Leben zu finden. Eine hoffnungsvolle Geschichte über Liebe, Verlust, Trauerbewältigung und den Sinn des Lebens – inspirierend, zutiefst subjektiv und zugleich philosophisch.
Das jähe Ende eines Traums
Die Brüder Tom und Patrick wagen nach ihrem Studium den Schritt, gemeinsam nach New York zu gehen. Sie wollen richtig durchstarten in der Weltmetropole, jeder seiner eigenen Neigung entsprechend: Tom, der Ältere, beginnt eine aussichtsvolle Karriere in Naturwissenschaft und Forschung, Patrick findet als Journalist eine Anstellung bei der renommierten Zeitung The New Yorker. Sein besonderes Interesse gilt den ästhetischen Künsten: Mit seinem Kollegen, dem Musikkritiker Alex Ross, publiziert er The Rest Is Noise – ein musikhistorisches Sachbuch, das zum Weltbestseller wird.
Das Leben scheint vom Glück gesegnet – ein Jahr lang geht es für beide nur aufwärts. Dann aber bricht eine schreckliche Katastrophe herein: Tom erkrankt schwer an Krebs und stirbt unerwartet mit nur 26 Jahren. Für Patrick geht damit ein Lebensabschnitt zu Ende. Seine Arbeit im Journalismus erscheint plötzlich nur noch erdrückend, fremd und extravagant. Er kündigt seine Anstellung, um trauern zu können; um Trost, innere Einkehr und neuen Sinn im Leben zu suchen. Das alles findet er schließlich an einem Ort, der für ihn der Inbegriff von Schönheit und Ästhetik ist: Beim Metropolitan Museum of Art nimmt er eine Stelle als Museumswächter an. Er wird dort zehn Jahre bleiben – bis die Trauer bewältigt ist.
Humanismus und Schönheit, die die Zeit überdauert
Worin genau besteht die heilende Wirkung der Kunst, die Bringley in seinem Buch so poetisch beschreibt? Zunächst verfügt „The Met“ über schier unendliche Sammlungen von Werken aus Malerei, Bildhauerei, Fotografie und anderen Gattungen – bis hin zum ganz praktischen Kunsthandwerk oder Musikinstrumentenbau. Fast alles ist in diesem Museum vertreten: Kunstepochen von der Steinzeit bis heute sowie sämtliche Kulturen der Vergangenheit und Gegenwart. Allein die Dauerausstellungen sind reichhaltig, hinzu kommen Sonderausstellungen mehrmals im Jahr. Ornamentreiche Möbel und Textilien in den Zimmern entführen einen nahezu in eine andere Welt. Auch die neo-antike Architektur des Hauptgebäudes in der Fifth Avenue vermittelt eine Atmosphäre von Transzendenz und Zeitlosigkeit: die berühmten Marmortreppen, die Säulen und Arkaden, unter denen der einzelne Mensch wie ein Baustein in einem größeren Komplex wirkt. Die „Main Lobby“, der Eingangsbereich, scheint von innen andächtig wie eine Kirche – dabei strotzt die Halle nur so von der säkularen Kraft des Humanismus.
Zum anderen hat die Kunst eine soziale Bedeutung für Bringley, der sich ansonsten isoliert, um mit seiner Trauer umzugehen. Bringley, im Herzen Journalist, wird über die Jahre zum genauen Beobachter von Besuchern, die durch das Museum streifen, von ihren Reaktionen auf die Kunstwerke und ihrem Umgang untereinander. Dadurch wird das Buch auch zum anschaulichen Lehrstück über Rezeptionsästhetik im Alltag: Was bedeutet Kunst für unterschiedliche Menschen, was gefällt wem und warum?
Das Glück liegt oft am Wegesrand: Subjektivität im Erfolgsstreben
Patrick Bringley liefert ein plastisches Bild von Verlust und dem mühsamen Weg zur Heilung. Seine Erinnerungen zeigen eine sehr intensive Form der Trauerarbeit, die für ihn zu diesem Zeitpunkt jedoch notwendig war: eine Karriere zu opfern und zehn Jahre lang in einem weitaus schlechter bezahlten Job zu verweilen, der keine formalen Abschlüsse erfordert. Die inspirierende Botschaft dieses Buches ist die Erkenntnis, dass es manchmal keine prestigeträchtige Arbeit sein muss, die einem guttut: Der Job als Museumswächter bietet Bringley eine feste Alltagsstruktur mit Routine und viel Wiederholung – und sogar eine höhere Sinnhaftigkeit, die ihn letztlich vor der inneren Leere rettet. Somit sind seine Erinnerungen ein anschauliches Beispiel für die Theorien des US-amerikanischen Psychologen und Publizisten Mihail Csikszentmihalyi. In Flow im Beruf beschrieb er einst die Kriterien, die Glückserlebnisse am Arbeitsplatz entstehen lassen: etwa ein individuelles Zeitempfinden, eine gesteigerte Konzentration wie während einer Meditation, das Verweilen in der Gegenwart und das eigene Gefühl, die Situation zu beherrschen, statt von ihr überwältigt zu werden.
Am Ende des Buches kehrt Patrick Bringley in die Welt zurück und nimmt seine Arbeit als Journalist wieder auf. Mittlerweile ist er verheiratet und hat zwei kleine Kinder. Das Kunstmuseum aber trägt er immer noch mit sich – ähnlich wie ein Gestrandeter, der nach seiner Rettung die Zeit auf der einsamen Insel nicht vergessen hat.
Über den Autor:
Patrick Bringley ist Publizist und Journalist. Seine Arbeit umfasst zahlreiche Beiträge für die Zeitschrift The New Yorker. 2007 veröffentlichte er mit dem Musikkritiker Alex Ross das musikhistorische Sachbuch The Rest Is Noise. Das 20. Jahrhundert hören, das in 15 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet wurde. Nach dem Tod seines Bruders arbeitete er 10 Jahre lang als Museumswächter im Kunstmuseum The Metropolitan Museum of Art in New York. Seine Erinnerungen All die Schönheit dieser Welt. Wie mir die Kunst dabei half, meine Trauer zu überwinden (2023) basieren auf diesen Erfahrungen. Bringley lebt mit seiner Ehefrau und zwei Kindern in Sunset Park, Brooklyn. Bis heute macht er regelmäßig Stadt- und Museumsführungen.
Text: PB
Verlag: Ullstein