
19.09.2023 || Marode Straßen, verschimmelte Schulgebäude, unpünktliche Züge – und wo bleibt eigentlich die Energiewende? Seit den Merkel-Regierungen hat Deutschland sämtliche Reformen verschoben – mit verheerenden Folgen für den Windkraftausbau, die Digitalisierung, den Bildungssektor und die soziale Gerechtigkeit. Derartige Versäumnisse sind schwer aufzuholen – möglich ist es trotzdem: Am 28.09., pünktlich zur Halbzeit der Ampel-Koalition, erscheint das politische Sachbuch Baustellen der Nation. Was wir jetzt in Deutschland ändern müssen bei Ullstein. Die Autoren Philip Banse und Ulf Buermeyer machen das, was sie in ihrem Podcast „Zur Lage der Nation“ bereits perfektionierten: In acht Kapiteln liefern sie eine scharfsinnige Analyse der wichtigsten Probleme mit überraschenden Ursachen und Zusammenhängen. Wie in einem Thesenpapier fordern sie konkrete Lösungen, die Mut zu einem Radikalschnitt machen. Ein längst überfälliges Buch!
Staatliche Grundlagen vereinfacht: Föderalismus neu denken
Das Duo Banse/ Buermeyer ist bereits bekannt für Deutschlands beliebtesten Politik-Podcast „Zur Lage der Nation“. Nun folgt ihr schriftliches Statement für den Buchmarkt: Baustellen der Nation. Was wir jetzt in Deutschland ändern müssen fasst die dringendsten Herausforderungen für die Politik zusammen und schlägt konkrete Lösungen vor, die Gemeinschaft und Demokratie wieder in den Fokus rücken. Ihre gründliche Recherche deckt Hintergründe und Widersprüche im System auf – umfassend, aufschlussreich und in so lockerem Schreibstil, dass die Lektüre garantiert zur Unterhaltung wird!
Das Buch zeichnet Stück für Stück eine Struktur, in der die größten Versäumnisse der Politik lediglich wie einzelne Knotenpunkte aus einem überraschend regelmäßigen Flechtwerk hervorstechen. Eines dieser Muster ist der deutsche Föderalismus, durch den der Bund immer weiter geschwächt wird. Banse und Buermeyer hingegen zeigen, dass viele der dringendsten Probleme nur auf Bundesebene gelöst werden können. Dabei setzen sie vor allem auf Bürokratieabbau: Zunächst muss die öffentliche Verwaltung digitalisiert werden, was immerhin den überforderten Ländern und Kommunen zugutekäme. Eine Smartphone-Plattform mit App-Store sowie der (längst vorhandene) elektronische Personalausweis könnten Behördengänge radikal vereinfachen. Von einer solchen Modernisierung würde auch der Windkraftausbau profitieren, der bisher an Papierwust, Personalmangel und endlosen Klageverfahren scheitert. Der Bund kann als Eigentümer der deutschen Bahn deren komplizierte Unternehmensstrukturen reformieren, um die Verkehrswende hin zu grüner Mobilität umzusetzen. Und letztlich, so die Autoren, kann er die Bildungsmisere retten, bei der die Länder seit Jahrzehnten versagen.
Vermögen, Bildung, Einkommen und Rente: So schließt sich die Schere zwischen Arm und Reich
Ein weiteres Muster, auf das die Autoren immer wieder zurückkommen, ist die soziale Ungleichheit in Deutschland. Mehr als in anderen OECD-Ländern hängt die Bildung eines Kindes vom Elternhaus ab. Millionenerben und Immobilienbesitzer können sich steuerfrei rechnen, während Erwerbsarbeit durch hohe Einkommenssteuern belastet wird. Der Boomer-Generation wirft das Autorenteam vor, dass sie den Generationenvertrag grundlegend verletzt hat: Es wurde zu kurz gearbeitet, zu viel Rente kassiert und die Kinderrate war rein rechnerisch zu niedrig. Die Politik hat diese Probleme über Jahrzehnte gedeckelt, bis der Topf überlief. Das Resultat: Die jüngeren Generationen sind nun massiv auf private Vorsorge angewiesen. Eine Schieflage, die die Gesellschaft spaltet. Banse und Buermeyer liefern Lösungen für jedes dieser Probleme – Lösungen, die mehr Solidarität schaffen, aber auch Mut zum Radikalschnitt erfordern: etwa ein Rentensystem, in das alle einzahlen, sowie sozial gerechte Abgabepflichten für Wohlhabende bis ins Rentenalter.
Woran es trotzdem noch scheitern kann
Am Ende des Buches ist das Flechtwerk an Problemen, Ursachen und Lösungen so gut gewebt, dass man sich fragt, ob die acht Kapitel von Baustellen der Nation nicht erweitert werden müssen, um die Republik zu retten. Welche vergleichbaren Lösungen gäbe es zum Beispiel für die Deutsche Post AG, die ja durch ihren Gang an die Börse und den dadurch entstehenden Sparzwang eine ähnliche Entwicklung durchlaufen hat wie die Bahn? Die Kundenbeschwerden über schlechten Lieferservice erreichten gerade in diesem Sommer ihren Rekord. Von der Deutschen Post hat der Bund seine Anteile aber gänzlich abgegeben.
Man sollte sich wünschen, dass Baustellen der Nation zur Pflichtlektüre wird für alle Verantwortlichen in den genannten Bereichen. Doch selbst wenn Politik-Profis wie auch Bürgerinnen und Bürger das Buch annehmen – wie hoch ist ihre tatsächliche Motivation, seine Thesen in die Realität umzusetzen? Vor sechs Jahren diagnostizierte der Psychologe Stephan Grünewald den Deutschen eine „Auenland“-Mentalität, die den Status Quo zur heilen Welt verklärt und Aufrufe zu Veränderungen als Bedrohung einstuft. Wozu braucht der deutsche Durchschnittsbürger etwa einen Lohnanstieg, wie ihn Banse und Buermeyer fordern? Etwa für die Ehefrau? Mit Ehegattensplitting und Kindergeld kommt man doch mitunter auf ein bedingungsloses Grundeinkommen, ganz ohne Arbeit. Die Krankenversicherung gibt’s über den Ehemann, und wer mehr Geld braucht, nimmt sich einen Minijob – da kann man Steuern vermeiden. Das böse Erwachen kommt erst im Alter, wenn die Armut an die Tür klopft. Doch bis dahin hat sich noch jede notwendige Einsicht verschieben lassen.
Über die Autoren:
Philip Banse (geboren 1972) ist Journalist und Moderator. Seine Themenschwerpunkte umfassen die deutsche Politik in Afghanistan sowie Innenpolitik, Wirtschaft, Umwelt, Bildung und Digitales. 2006 wurde sein Podcast „Küchenradio“ für den Grimme Online Award nominiert. Aktuell arbeitet er für den Deutschlandfunk (DLF und DLF Kultur). Ulf Buermeyer (geboren 1976) ist promovierter Jurist und Richter am Landgericht Berlin. Während seiner Assistenz in der Wissenschaft spezialisierte er sich auf Verfassungs- und Strafrecht und war beim Bundesverfassungsgericht tätig. Das Autorenteam betreibt zusammen den Politik-Podcast „Lage der Nation“. Banse und Buermeyer leben beide in Berlin.
Text: PB
Verlag: Ullstein