23.01.2024 || Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ist ein neuer Krieg in Gaza entfacht. Es ist die bisher schlimmste Eskalation im Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Nun meldet sich der renommierte Historiker Moshe Zimmermann zu Wort. Der israelische Intellektuelle deutscher Abstammung setzt sich seit Jahrzehnten für die Zweistaatenlösung ein. Seine vorherigen Publikationen, Wende in Israel (1996) und Die Angst vor dem Frieden (2010), wurden dabei viel beachtet. Am 29.02. erscheint sein neuestes Sachbuch im Propyläen Verlag: Niemals Frieden? Israel am Scheideweg ist ein dringender Appell gegen Islamismus, Antisemitismus und die israelische Siedlungspolitik in den palästinensischen Gebieten – und für den Staat Palästina, damit Juden und Araber in Frieden zusammenleben können.
Ein Buch über Geschichte, Politik und Menschlichkeit
Moshe Zimmermann gilt als einer der einflussreichsten Experten für deutsch-jüdische Geschichte, deutsch-israelische Beziehungen, Antisemitismus und den Holocaust. Darüber hinaus setzt er sich seit mehr als drei Jahrzehnten für die Zweistaatenlösung ein. Bereits in seinem Sachbuch Die Angst vor dem Frieden. Das israelische Dilemma (2010) analysierte er den Nahostkonflikt aus einer historischen Perspektive. Dabei kritisierte er unter anderem die heutige israelische Gesellschaft und Politik, weil sie mehr Angst vor den radikalen Mächten hinter den Siedlungen hätten als vor dem Teufelskreis an Gewalt, der den Frieden unmöglich mache.
Jetzt, da der neue Krieg die Welt in Schock versetzt, hat Zimmermann ein weiteres Buch herausgebracht. Niemals Frieden? Israel am Scheideweg ist ein erneuter Versuch, die aktuelle Tagespolitik historisch zu erklären sowie Ursachen und Verantwortliche zu identifizieren. Besonders berührend ist, dass die Faktenlage selbst sich von seinen vorherigen Büchern nicht unterscheidet – und auch nicht die Menschlichkeit. Den unvorstellbar brutalen Übergriff der Hamas auf wehrlose Kibbuzim in Israel und die weltweit grassierende Solidarität mit den Tätern verurteilte Zimmermann bereits gegenüber tagesschau24 als unmenschlich und antisemitisch, da sich der Hass gegen Juden richtet.
Der immerwährende Krieg im Gazastreifen: „Die Hoffnung wird immer kleiner“
An der Zweistaatenlösung hält Zimmermann auch in seinem neuen Buch fest: Das Land müsse aufgeteilt werden zwischen Arabern und Juden, damit beide Gruppen in Frieden zusammenleben können. Doch besonders in den letzten Jahren habe die israelische Regierung den völkerrechtswidrigen Siedlungsausbau aus ideologischen Gründen vorangetrieben. Die Hamas ließen sie einfach neben sich her leben, anstatt gemäßigte politische Kräfte im Westjordanland und anderen Gebieten zu fördern – etwa die palästinensische Autonomiebehörde. „Das musste explodieren“, so fasste Zimmermann die Lage bereits am 11.10.23 gegenüber SWR1 zusammen.
Auch die aktuelle politische Lage in Israel spielt für Zimmermann eine Rolle. Direkt nach dem Terroranschlag warfen er und Yuval Noah Harari (ebenfalls Historiker an der Hebräischen Universität Jerusalem) öffentlich die Frage auf, wie es sein konnte, dass der israelische Staat auf einen solch langwierig geplanten Terroranschlag völlig unvorbereitet war. Sowohl Harari als auch Zimmermann sehen einen Zusammenhang zur geschwächten Demokratie in Israel, das durch Netanjahus Politik, seine Justizreform und Korruptionsprozesse gespalten ist. Zimmermann ist schon lange ein Kritiker von Netanjahus Regierung. Unter anderem stellt er sich gegen die Auffassungen des revisionistischen Zionismus der Likud-Partei.
Zuletzt widmet sich der Historiker der Rolle der internationalen Gemeinde und auch der Rolle Deutschlands im Nahostkonflikt. Im Jahr 2008 erklärte Angela Merkel während ihrer Rede vor der Knesset die Sicherheit Israels erstmals zur deutschen Staatsräson. Kanzler Olaf Scholz und die Ampel-Koalition schlossen sich dieser Aussage an. Ein Fortschritt? Für Zimmermann vor allem eine Phrase, wie er mehrfach betonte. Die internationale Gemeinschaft (darunter Deutschland) habe es versäumt, im Friedensprozess zwischen Israel und Palästina zu vermitteln. Auch dadurch konnte die Hamas an die Macht kommen, so Zimmermann. Der Rest der Welt schien in dem Glauben verhaftet, dass der Frieden im Nahen Osten weit weg sei. Nun hat sich eine neue, alte Gefahr etabliert: Der Islamismus gewinnt an Einfluss und bedroht die Welt erneut. Zudem könnten Iran, Libanon und Hisbollah zu weiteren Kriegsparteien werden. Unter den gegebenen Umständen ist Niemals Frieden? das vielleicht pessimistischste Buch des Autors – trotz der wissenschaftlich nüchternen Darstellung möglicher Lösungen, die es noch gibt. Im Interview mit SWR1 bemerkte Zimmermann: „Die Hoffnung wird immer kleiner (…) Der Hass auf beiden Seiten steigt.“
Über den Autor:
Moshe Zimmermann (geboren 1943 in Jerusalem) ist Professor emeritus für Neuere Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Seine Eltern flohen 1937 vor den Nazis aus Hamburg in das Mandatsgebiet Palästina. Nach einem DAAD-Auslandsaufenthalt in der Hansestadt promovierte er über jüdische Emanzipation in Hamburg im 19. Jahrhundert. Später führten ihn Gastprofessuren immer wieder nach Deutschland sowie nach Princeton und Krakau. Für seine Forschung wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Rudolf-Küstermeier-Preis der israelisch-deutschen Gesellschaft (1990) und dem Humboldt-Forschungspreis (1993). In Israel verfasste er viele Lehrbücher für den Geschichtsunterricht an Schulen mit. Sein Sachbuch Deutsche gegen Deutsche. Das Schicksal der Juden im 2. Weltkrieg (2008) schloss eine Forschungslücke zur Geschichte der deutschen Juden in den Jahren 1938 bis 1945. Zudem engagiert sich Zimmermann im deutschen Fußball für den HSV.
Text: PB
Verlag: Ullstein – Propyläen