
31.10.2013 || StageCat: Gib uns doch mal eine kleine Einführung: Wer bist du, wo kommst du her und was hat dich nach Berlin verschlagen?
Mirco Drewes: Wer ich bin, kann ich selbst am allerwenigsten beantworten, ich komme in der Frage zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Das müsstet ihr meine Freunde oder Feinde fragen. Allgemein formuliert bin ich Sternzeichen Wassermann mit Aszendent Skorpion, also vermeintlich ein sensibler und kreativer Mensch mit soziopathischer Veranlagung und Hang zum praktizierten Wahnsinn. Laut eines kostenlosen Internet-Horoskops wäre ich aber auch als Präsident geeignet, wobei das wohl niemand möchte.
Womöglich hat mich diese charakterliche Disposition in Berliner Gefilde gespült, was sich gut trifft, da ich nirgends ein urbaneres Lebensgefühl erlebt habe, als hier. Als gebürtiger westfälischer Provinzler weiß ich sowohl die großstädtische Anonymität zu schätzen, wie auch den geistigen Input, der einem in diesem „Stadt“ genannten kulturellen Feldversuch zu Teil wird. Daneben finde ich hier als „Buch- und Kulturmensch“ ideale Arbeitsbedingungen vor, weshalb ich vor sechs Jahren gekommen bin.
SC: Man spricht des Öfteren von brotloser Kunst. Hast du Angst vor der Zukunft?
MD: Ja, das kommt vor. Ich bin stimmungsabhängig und kenne auch solch schwache Tage. Mich ärgert das, weil ich Angst für einen schlechten Ratgeber halte und mich eigentlich gelassener wähne. Vom Publizieren selbst wirtschaftlich auskömmlich zu leben ist schwer, sowohl für die allermeisten Verlage, erst recht für Autoren. Als Selbstständiger pflege ich eine Mischkalkulation und arbeite neben dem Schreiben als Lektor und berate Verlage und Autoren in Fragen der Öffentlichkeitsarbeit. Daneben läuft die eigene Publizistik, die ich versuche, vom größten wirtschaftlichen Druck frei zu halten. Denn schon kommt bei dem Stichwort die Angst wieder ins Spiel. Und ich möchte im Schreiben persönliche Freiheit leben.
SC: Welcher Aspekt deiner Arbeit macht dir am meisten und welcher am wenigsten Spaß?
MD: Allgemein gesprochen liegt mir die kreative Arbeit. Ich stelle mich sehr gern der Herausforderung, in wenigen Zeilen eines Pressetextes oder eines Journalistengesprächs das Wesentliche ansprechend zu formulieren oder im Lektorat die Intention eines Textes aufzufassen und diesen durch einen kleinen Vorschlag auf eine höhere Qualitätsebene zu heben. Am wenigsten Spaß macht mir die im Kultursektor häufig anzutreffende Dumpingmentalität. Wobei mit diesem Umstand gewiss auch Selbstständige anderer Branchen zu kämpfen haben.
Aufs Schreiben bezogen: Ich liebe die Offenheit, die von einem weißen Blatt Papier ausgeht. Ich recherchiere gern, spreche gern mit Menschen und vergesse beim Schreiben Raum und Zeit, das ist mein Element. Gelegentlich wundere ich mich, dass die Kanne Tee bereits wieder leer ist oder der nun mal erforderliche Tabak zur Neige geht. Womit ich Schwierigkeiten habe ist, dass es leider so sehr hilfreich ist, ein geordnetes Arbeitsverhalten beizubehalten. Wenn ich erst nach stundenlangem Suchen den bestimmten Notizzettel mit einem Literaturhinweis oder einem Gedanken finde, möchte ich stets wütend meine Assistenten anschreien. Ich habe aber keine.
SC: Was inspiriert dich?
MD: Vor allem Strukturen. Ob Songstrukturen - ich höre Musik unterschiedlichster Genres bei der Arbeit an Texten - oder Strukturen, die sich in literarischen oder journalistischen Texten oder auch Gesprächen an der Theke finden: Strukturen habe ich schon immer interessanter gefunden als vermeintliche Fakten. Der geistigen Grammatik der Dinge auf den Grund gehen zu wollen empfinde ich als sehr anregend. Aus Strukturen entstehen Geschichten als Erzählungen, im Unterschied zu einer für bar genommenen Geschichte.
SC: Was verbindet dich mit Brasilien?
MD: Der lateinamerikanische Kontinent hat mich von Kindesbeinen an fasziniert. Die Geschichten über die indianischen Ureinwohner und die Konquistadoren haben mich stets gefesselt. Ich habe anscheinend schon als Kind links gedacht und mich über die imperiale Anmaßung des Westens geärgert. In Kindertagen war diese Einstellung eher als körperliches Mitleid und Solidaritätsgefühl mit den Menschen in den kolonisierten Gebieten fühlbar. Und Brasilien hat ja wahrlich eine lange Geschichte der Ausbeutung hinter sich.
Daneben stand der unbändige Lebenshunger, der als Aura Brasilien zumindest in der Fernwahrnehmung immer umgibt. Und natürlich der Fußball: Als wir in Kindertagen über die Bolzplätze gejagt sind, fanden sich immer einige Jungs, die Pelé sein wollten. Den hatten zwar weder ich noch meine Kumpels noch aktiv spielen sehen, doch wahrscheinlich hat sich die Bewunderung unserer fußballbegeisterten Eltern auf uns übertragen.
SC: Welche Motivation steckt hinter deinem neuen Buch? Wie bist du auf die Idee, gekommen ein Buch über Fußball zu schreiben?
MD: Zwei Erlebnisse haben mich dem Thema nahe gebracht: Vor einigen Jahren ist eine Freundin für ein Sozialhilfeprojekt nach Recife gegangen und hat dort mit Kindern in den Favelas gearbeitet. Anschließend ist sie einige Monate durch das Land gereist, immer an den Stränden der Ostküste entlang. Es war beeindruckend, in ihr einen enorm gewachsenen Menschen nach ihrer Rückkehr zu erkennen. Über unsere vielen Gespräche hat sich meine Faszination für das Land konkretisiert.
Im letzten Jahr bat mich zudem ein Freund, der ein kleines Fanzine herausgibt, eine Geschichte für ein Themenheft zum Fußball beizusteuern. Als ich meine Arbeit an einem Artikel über den legendären Rechtsaußen Garrincha abgeschlossen hatte, stand für mich fest, tief in das Thema eintauchen und ein Buch über den brasilianischen Fußball schreiben zu wollen. Die Geschichten des brasilianischen Fußballs schienen mir schlicht zu gut, um daran vorbeigehen zu können.
Meine Idee ist es, die großen Spieler und deren unterschiedliche Lebensgeschichten auf den Sport als extremen, aber auch exemplarischen Teil der Gesellschaft zu beziehen. Aus den vielen kleinen Geschichten, so hoffe ich, ergibt sich eine große, zusammenhängende Version der brasilianischen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Gewiss subjektiv, aber womöglich informativ und idealerweise auch unterhaltsam. Ich bin selbst großer Fußballfan und interessiere mich für die kulturellen Hintergründe des Sports. Was kann es Besseres geben, als ein Buch zu schreiben, dass ich selbst gern lesen würde?
SC: Welcher Spieler, den du in deinem Buch behandelst, liegt dir besonders am Herzen?
MD: Ich habe eine Schwäche für Romário. Ich habe ihn als Spieler geliebt und fand den Wechsel zwischen größenwahnsinnigen Selbstinszenierungen und reumütigen öffentlichen Selbstkasteiungen allein schon aus katholischer Sicht sehr unterhaltsam. Dass er nun als Sozialist für die benachteiligte Bevölkerung, aus deren Kreisen er selbst stammt, gegen Korruption kämpft, auch wenn er selbst Millionär und verurteilter Steuerhinterzieher ist, ist wohl nur bei einem Unikat wie ihm auf merkwürdige Art sogar glaubwürdig.
Im weitgehend vergessenen Arthur Friedenreich sehe ich einen untergegangenen Typus des Gentleman-Sportlers und ein tolles Beispiel dafür, dass es sich lohnen kann, in einem Menschen jenseits gesellschaftlicher Konventionen das Potential zu sehen, dass es gut ist, sich selbst treu zu bleiben.
Die Geschichte des Fußballers und Menschen Garrincha ist meines Erachtens den mythischen Erzählungen der Antike an rätselhaftem Tiefsinn und Spektakel ebenbürtig; Sócrates war gewiss einer der außerordentlichsten Sportler des 20. Jahrhunderts und eine große Persönlichkeit, ein friedlicher Revolutionär. Zwischen diesen Vieren möchte ich mich nicht entscheiden.
SC: Welche Mannschaft hätte es seit langem verdient Weltmeister zu werden?
MD: Frei von Patriotismus möchte ich sagen: Deutschland. Ich sehe in den letzten Jahren einen mitreißenden Fußball, der Spektakel auf dem Platz und eine akribische und kontinuierliche Arbeit daneben verbindet. Außerdem würde ein Titel die Nörgler aus dem konservativen Lager verstummen lassen. Das Echo nach dem Ausscheiden bei der Europameisterschaft war stellenweise unsäglich. Erfreuen wir uns des guten Fußballs, den die Nationalelf bietet. Es ist bisher das Pech dieser Generation, dass zu ihrer Zeit Spanien eine Goldene Generation stellt, die den Fußball unserer Tage ein Stück weit revolutioniert hat. Und Pech ist es natürlich auch, wenn Italien unseren Weg bei einem Turnier kreuzt…
Wenn es um die ganz lange Sicht geht, vor allem die Niederlande, doch das haben auch schon Generationen vor uns gedacht.
SC: Wenn du eine imaginäre Fußball-Mannschaft für die WM zusammenstellen dürftest, welcher Spieler darf dabei nicht fehlen?
MD: Der Kolumbianer Radamel Falcao, den ich für einen unwiderstehlichen Torjäger von Weltformat halte und auf den ich beim Turnier sehr gespannt bin. Und im Mittelfeld der Waliser Ryan Giggs, dem ich zum Abschied gern die ganz große Bühne darbieten würde, die ihm stets versagt blieb.
SC: Jedes Mal, wenn eine Meisterschaft in Südamerika stattfand, hat auch eine südamerikanische Mannschaft gewonnen. Meinst du, dass die europäischen Mannschaften dieses Mal den klimatischen Verhältnissen gewachsen sind?
MD: Wie schwierig die Anpassung sein wird, hat der Confederations Cup gezeigt. Doch werden sich die Teams auf die Weltmeisterschaft intensiver vorbereiten. Ein klimatischer Heimvorteil wird aber gegeben sein. Im eigenen Land wird man Brasilien auf der Rechnung haben müssen, doch in Argentinien sehe ich einen noch heißeren Kandidaten. Deutschland ist mehr denn je Großes zuzutrauen, Spanien geht auf dem Papier als Topfavorit ins Rennen. Und wer möchte schon gegen Italien spielen?
SC: Wo guckst du am liebsten und warum? Zuhause/Stadion/Kneipe ....?
MD: Alle drei Konstellationen haben etwas für sich. Ein Stadionbesuch ist immer ein Feiertag, das Erlebnis und das ganze Drumherum würde ich auch jedem nicht grundsätzlich fußballinteressierten Menschen empfehlen. Fußball in der Kneipe zu gucken hat immer etwas sehr Familiäres und Emotionales, was ich sehr schätze. Für Tage der persönlichen Formschwäche oder eine besonders unattraktive Zweitligapaarung, an der man aus unerfindlichen aber guten Gründen nicht vorbei kommt, ist das heimische Sofa die richtige Wahl.
SC: Dein witzigster/schönster/traurigster/usw. Moment im Fußballstadion/beim Fußballgucken?
MD: Unvergesslich bleibt mir die Rote Karte gegen den großen Zinedine Zidane im Finale der Weltmeisterschaft 2006. Die Bilder sind wie in die Netzhaut eingebrannt, eine Szene, mit der ich vielleicht niemals fertig sein werde. Als besonders tragisch und trostlos habe ich auch die gespenstischen Szenen der Schalker „Meisterschaft der Herzen“ erlebt. Ich habe mit Freunden zusammen geschaut und wir wollten abends noch feiern gehen. Nach dem Spiel sind Alle kommentarlos auseinander gegangen, jeder wollte angesichts der eingetretenen Sprachlosigkeit allein sein. Selbst die Bayern-Fans in unserer Runde.
SC: Warum sollten unsere User dein Buch unbedingt kaufen?
MD: Dafür gibt es eine Reihe guter Gründe, meine Top-Elf lautet: 1. Wer im Fußball mehr sieht oder sehen möchte als nur Sport, der ist hier gut beraten. 2. Wer sich für Lebensgeschichten, verrückte Anekdoten und Brasilien im Allgemeinen interessiert, greife zu. 3. Wer in seinem Buchregal ein schön bunt bebildertes Cover im Comic-Stil vermisst, wird zu schätzen wissen, was präsentiert wird. 4. 2014 wird der konversationelle Druck rapide zunehmen, sich zum Thema äußern zu müssen. Wohl dem, der lässig einige kuriose Hintergrundgeschichten zu erzählen hat. 5. Ich will nicht umsonst gearbeitet haben. 6. Kleine und unabhängige Verlage zu unterstützen macht sexy. 7. Wer 12,90€ für mein Buch ausgibt, hat einen guten Grund, sich eine sinnlose Ausgabe in selber Höhe für etwas Anderes zu sparen. 8. Was haben der Papst, Frank Sinatra und ein gewisser Alcides Ghiggia gemeinsam? Eben. 9. Wie konnte ein magischer Mischlingshund die brasilianische Meisterschaft entscheiden? Genau. 10. 125 Jahre Geschichte auf 300 Seiten komprimiert – lohnt sich da das selbst Alt werden noch? 11. Es würde mich freuen.
SC: Mal abgesehen von deinen Lieblingen, wer wird 2014 Weltmeister?
MD: Wenn ich diese Frage beantworten muss, sage ich heute: Argentinien. Und morgen etwas Anderes. Außerdem muss ich nicht!
Interview: Jeannette Wistuba