
29.11.2022 || StageCat: In Ihrem neuen Buch „Wie sage ich es meiner Mutter – Die neue Welt erklärt: von Gendersternchen bis Bio-Siegel“ erzählen Sie unter anderem von einem Urlaub mit Ihrer Mutter an der Ostsee und beschreiben humorvoll die Grimmigkeit der Ostsee-Anrainer. Aber eigentlich mögen Sie die Ostsee, oder?
Wladimir Kaminer: Natürlich, sonst würde ich nicht immer wieder dorthin fahren, das war ein liebevoller Blick auf die Menschen an der Ostsee. Sie sind nicht so emotional aufgeladen wie Rheinländer, die den Karneval feiern, eher so wie meine Mutter und ich, sture Russen.
SC: Ihr neues Buch dreht sich um eine Art humorvolle Vermittlung zwischen den Generationen – zwischen Ihrer 90-jährigen Mutter und deren Enkeln, die in den Zwanzigern sind. Wie sind Sie zu dem Thema gekommen?
WK: Die Missverständnisse zwischen den Generationen sind mein Lieblingsthema. In solchen Gesprächen kann man das Konstrukt der Zukunft erkennen. Ich bin froh, dass es mir gelungen ist, zwischen der Seuche und dem Krieg ein so lustiges Buch zu schreiben.
SC: Macht Ihre Mutter aus der Sicht ihrer Enkel in dieser neuen Welt denn alles falsch?
WK: Mama lebt nach einem anderen Kanon. Meine Kinder wollen sie ständig umerziehen. In ihren Augen ist sie eine Umweltsünderin, und das wollen sie ändern.
SC: Auch jüngere Menschen haben Probleme mit Gendersternchen, Bio-Siegeln oder wollen ihre lang ersehnte Flugreise wegen der Klimakrise nicht absagen. Würden Sie denen ebenfalls Ihr Buch empfehlen?
WK: Das Buch haben schon Freunde von meinen Kindern gelesen, das hat mich gefreut. Ich denke, dass es alle Altersgruppen anspricht.
SC: Sie sind in Deutschland unter anderem durch Ihren Erzählband und das Album „Russendisko“ bekannt geworden. Wie wichtig ist Musik für Sie?
WK: Jetzt ist schwieriger geworden mit Musik aus meiner Heimat. Russland führt einen Angriffskrieg, zerstört Häuser und tötet Frauen und Kinder. Deshalb hat niemand Lust, zu russischer Musik zu tanzen. Aber wir haben für „Russendisko“ schon immer auch ukrainische Musik verwendet und darauf konzentrieren wir uns jetzt. Aber grundsätzlich verstehe ich die magische Beziehung vieler Menschen zur Musik nicht. Mir gefallen Worte. Die Musik war für mich immer ein Mittel, um Menschen kennenzulernen.
SC: Apropos Musik: Sie spielen im neuen Deichkind-Musikvideo mit. Darin geht es um den Flug von Mathias Rust nach Moskau, der auf dem Roten Platz landen wollte. Zu dem Ereignis haben Sie eine besondere Beziehung.
WK: Ich war tatsächlich zu der Zeit in der Armee. Meine Aufgabe war es, den Abwehrring von Moskau zu bewachen. Wir sollten das Flugzeug von Mathias Rust abschießen. Ich habe mich geweigert und bin stolz darauf. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mich gefreut habe, in dem Video mitzuspielen. Und es ist mir wichtig zu wissen, welche Musik junge Menschen hören.
SC: Im Dezember sind Sie wieder auf Lesereise. Sie sind oft Gast auf Kreuzfahrtschiffen, sprechen an der Sorbonne, reisen für Lesungen durch die Republik und sind häufig in Spanien. Packt das Reisefieber Sie trotzdem regelmäßig oder nervt das Unterwegssein Sie auch manchmal?
WK: Ja, das packt mich immer wieder, ich bin gern auf Reisen. Genervt bin ich nicht, denn ich kann unterwegs gut Schreiben, etwa im Zug, wenn viele Menschen um mich herum sind. Zu Hause packt mich die Prokrastination: Dann schaue ich aus dem Fenster und sehe, dass ein Vogel auf dem Balkon ein Nest gebaut hat, ich sehe nach, welche Nachrichten ins Postfach eingelaufen sind oder denke, jetzt könnte ich auch ein Bier trinken. Ich schiebe das Schreiben auf.
SC: Sie haben Ihr Geburtsland Russland mit 23 Jahren verlassen und sind 1990 in ein für Sie fremdes Land, die DDR, ausgewandert. Gibt es eigentlich Orte, von denen Sie sagen, dass sie Heimat sind oder dass Sie gern dorthin zurückkommen?
WK: Es kommt darauf an, wie man Heimat definiert. Wenn man sagt, es ist das Land, das ich liebe, dann habe ich meine Heimat noch nicht gefunden. Wenn man sagt, es dort, wo man geboren und sozialisiert wurde, dann ist das die Sowjetunion, ein Ort, den es nicht mehr gibt, aber deshalb ist es auch so amüsant darüber zu schreiben. Meine Wahlheimat ist Berlin, dort habe ich in den letzten Jahrzehnten viele Veränderungen mitbekommen.
Interview: WK events
Foto: Michael Ihle